#einevonacht

Gesamtüberleben

Es gibt Wörter, die nicht gerade Mut machen. Gesamtüberleben ist eins davon. Mal davon abgesehen, dass ich mich frage, was das überhaupt für ein Wort ist.

Gesamtüberleben.

Es steht in meinen Befunden. Irgendwo im Fließtext.

„…Auswirkungen auf das Gesamtüberleben…“

Ich weiß noch genau, wie es mir eiskalt den Rücken runter lief, als ich das Wort zum ersten Mal gelesen habe. Und wie ich dachte, dass es hier doch nicht um mich gehen kann.

Vollkommen absurd.

Ich versuche, herauszufinden, was das heißt. War’s das jetzt? Ist das Ende eingeleitet? Oder kann ich das hier überleben?

„Durch verbesserte Therapiemöglichkeiten haben Brustkrebspatientinnen heutzutage deutlich bessere Heilungschancen als früher“, lese ich beim Krebsinformationsdienst. „Nach Angaben des Zentrums für Krebsregisterdaten leben von 100 Patientinnen mit Brustkrebs 5 Jahre nach der Diagnose noch etwa 79 Frauen. Rund 67 von 100 Betroffenen leben noch 10 Jahre nach der Diagnose.“ 

Gesamtüberleben.

Das ist die Größe aus den Studien. Overall Survival. Damit wird gemessen, was was bringt. Da gibt es dann Prozentzahlen, je nach Tumor. Und je nachdem, „wann der Tumor entdeckt wurde“. Das heißt übersetzt: ob er gestreut hat oder nicht. Ob man noch heilbar ist oder nicht. Aber selbst wenn er vorher nicht gestreut hat, kann zu jeder Zeit alles auf einmal ganz anders laufen. Und die Gesamtüberlebensprognose sieht auf einmal ganz anders aus.

Meine Ärztin hat sich geweigert hat, Kristallkugelgedankenspiele mit mir zu machen. Immer wenn ich versucht habe, Klarheit zu bekommen – „Was ist denn nun meine Prognose?“ oder „Welche Auswirkungen hat denn XY auf meine Prognose?“ – hat sie mich ganz ruhig angeguckt und gelächelt und mir erklärt, dass ich auf diese Fragen keine Antworten bekommen werde. Weil niemand sie beantworten kann.

Und das ist das Dilemma.

Wir lesen in den Befunden und bei unseren Recherchen Wörter wie Gesamtüberleben und Überlebensprognose – und wissen nicht, wo wir stehen. Zu welcher Gruppe wir gehören werden.

Chemo und Mastektomie haben laut medizinischem Fahrplan bei mir dazu geführt, dass ich als „geheilt“ entlassen wurde.

Ich weiß aber trotzdem nicht, ob ich zu den 21 von 100 Frauen gehöre, die vor Ablauf der ersten 5 Jahre sterben, oder zu den 33, die nach 10 Jahren nicht mehr leben. Oder ob ich den zu den 67 gehöre, bei denen nach 10 Jahren noch alles o.k. ist, die munter weiterleben dürfen. Vielleicht kommt dann im 11. Jahr was!? Vielleicht aber auch nicht. Who knows.

Wir sollen uns nicht verrückt machen (lassen). Wir sollen optimistisch sein.

Und dennoch: Wie graue Wolken wabern diese Szenarien über unseren Köpfen. Ziehen hinter uns her, verfolgen uns.

Spätestens mit der Diagnose Brustkrebs hat die Betrachtung des eigenen Lebens eine neue Dimension bekommen. Eine Dimension, die vielleicht nicht jeden Tag präsent ist, aber die immer mal wieder auftaucht und irgendwie ziemlich real ist. Die Dimension der Endlichkeit.

Wir sind irgendwo zwischen den Welten. Eigentlich im Hier und Jetzt, aber irgendwie anders.

Wir werden bei der Beschäftigung mit der Krankheit unfreiwillig immer wieder mal mehr und mal weniger explizit darauf hingewiesen, dass sie da sind, diese grauen Wolken, dass sie hinter uns zu sehen sind. Und es hilft nicht, dass uns (verständlicherweise) niemand sagen kann, ob sie uns irgendwann bedrohlich nah kommen werden oder nicht.

Wir sollen nicht an sie denken, an die grauen Wolken, sondern uns über die grüne Wiese vor uns freuen.

5- und 10-Jahres-Zeiträume sind also meine neuen Kennzahlen?

Selbst wenn ich versuche, das als Zukunftsspekuliererei beiseitezuschieben und nicht an mich heranzulassen, im Moment zu bleiben, weiß ich, dass andere die Kennzahlen über meinem Kopf sehen, wenn sie sich mit mir beschäftigen. Und schon ist er weg, der gute Vorsatz. Schon ist das Thema Gesamtüberlebensprognose wieder direkt vor meiner Nase.

Die Kunst ist, mit der grauen Wolke umgehen zu lernen.

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Meine Psychoonkologin hat mir am Anfang, als ich noch Brustkrebs-Newbie war und noch Antworten gesucht habe und viele emotionale Achterbahnfahrten durchgemacht habe, dieses Bild hier mit auf den Weg gegeben: Das Bild einer Waage.

Sie hält ihre Hände vor sich. „Es kann sein, dass Sie noch einmal einen Tumor bekommen“, sagt sie, ihre imaginäre Waage geht auf der einen Seite runter. „Aber dann muss in die andere Waagschale, dass Sie es nicht wiederbekommen.“ Und balanciert die Waage aus.

Genauso, wie das eine sein kann, kann auch das andere sein.

Viele Frauen haben mir in den Gesprächen erzählt, dass sie mit jedem weiteren Jahr immer weniger an die Krankheit denken. Dass das Neue sich mehr und mehr Raum nimmt, dass die Wolken verblassen. Das macht Mut.

Niemand weiß, was kommt, was ihn erwartet. Auch die Leute nicht, die keinen Brustkrebs hatten. Es kann sein, dass irgendwann was wiederkommt, dass wir Metastasen bekommen. Es kann aber auch sein, dass wir keine bekommen. Und selbst wenn wir wüssten, ob wir welche kriegen werden, wüssten wir nicht, was das konkret heißt. Weil es auch bei metastasierten Frauen keinen Standard gibt, keinen vorprogrammierten Ablauf. Weil dann in dem Moment gehandelt wird. So, wie es dann richtig ist.

„Und was ist, wenn ich Metastasen habe?“, habe ich meine Ärztin gefragt. „Dann haben Sie Metastasen.“ „Aber was heißt denn das, wenn ich Metastasen habe?“ „Das heißt, dass Sie Metastasen haben.“ „Ja, und was bedeutet das?“ „Das sehen wir dann. Jetzt haben Sie keine.“

Die Kunst ist, zu leben. Im Moment. Nicht in Zukunftsszenarien. Jeden Tag. Das gilt auch für alle anderen Menschen da draußen.

Wenn ich anderen etwas mit auf den Weg geben könnte, wäre es das hier:

  • Seid wachsam. Passt auf, was Wörter mit Euch machen. Grenzt Euch ab. Haltet im Zweifelsfall Wörter von Euch fern.
  • Wenn Ihr Euch Gedanken macht, wenn Emotionen alles überschatten, nehmt das ernst, setzt Euch damit auseinander, bearbeitet sie, ordnet sie für Euch ein.
  • Und holt Euch Hilfe, wenn Ihr gern jemanden an Eurer Seite hättet. Sprecht darüber.

Und mir selbst wünsche ich die Gelassenheit, die ich bei den erfahrenen Brustkrebs-Frauen höre. Das Selbstverständnis. Die Stabilität. Die Klarheit, mit der sie auf meine Frage „Würdest Du sagen, dass Du gesund bist?“ ganz eindeutig und bestimmt „Ja.“ sagen.

 

An alle, die auch #einevonacht sind: Über welche Wörter im Krebs-Kosmos seid Ihr gestolpert? Bei welchen Wörtern habt Ihr gedacht: Was ist denn das für ein Wort!??

Wenn Ihr Lust habt, schickt mir gern eine Mail oder meldet Euch via Instagram oder LinkedIn.

Wenn das Rezidiv trotzdem kommt

Wenn das Rezidiv trotzdem kommt

Gestern hat mir eine Freundin erzählt, dass ihre Schwester ein Rezidiv bekommen hat. Gleiche Tumor-Art, die Therapie wird jetzt angepasst. Medizinisch mag das simpel klingen. Psychisch ist das der Worst Case, glaube ich.

#business #stories: Kontrolluntersuchungen können das Revival der Hölle sein

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Diese Woche hatte ich einen meiner Kontrolltermine. Und natürlich habe ich beim Rausgehen aus der Kabine nicht die Augen zugemacht sondern einen blitzschnellen Miniblick auf den Monitor der Ärztin geworfen. Schön blöd. Als ob ich da was erkennen würde… Das einzige, was ich gesehen habe, waren kleine dunkle Fleckchen. Ein Mini-Blick – und er reicht, um mich in die Staging-Zeit zurück zu katapultieren. Kontrolluntersuchungen können innerhalb weniger Sekunden vom routinierten Standardtermin zum Revival der Hölle werden.

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Ich bekomme täglich die ganzen Google Alerts zu Krebsthemen in meinen Posteingang. Und manchmal sind zwischen all den „Schock! Person XY hat Krebs!“-Meldungen Artikel, die ich sofort teilen möchte. In denen es um Forschungserfolge geht. Um neue Studien, neue Medikamente, neue Behandlungsmethoden. Um Fortschritt. Um neue Perspektiven. Um Hoffnung.

Off-Label-Use: Bisphosphonate

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Ich habe heute zum ersten Mal etwas bekommen, was nicht in meinem Therapieplan stand. Und wovon ich nur erfahren habe, weil ich zur Knochendichtemessung gegangen bin. Und weil meine Osteologin, die die Knochendichtemessung gemacht hat, gesagt hat: „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mir das sofort spritzen. Prophylaktisch.“ Es geht um Bisphosphonate. Zoledronsäure.

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Egal, wie sehr wir wissen, dass wir uns nicht vergleichen sollen, dass alle ihr Päckchen zu tragen haben, dass im Leben der anderen auch nicht alles glitzernd und prickelnd ist und bei allen viele dunkle Ecken lauern, viele Hürden, Herausforderungen, „Schicksalsschläge“ – es gibt Tage, an denen einfach alles richtig ätzend ist. An denen alles schwer ist.

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Praxis für Gynäkologische Onkologie. Das Tor zu einer anderen Welt. Der Ort, an dem die Chemo verabreicht wird. Und wo es so zugeht, wie ich es noch nie in irgendeiner anderen Arztpraxis erlebt habe.

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Mit Weihnachts- und Geburtstagsgeschenken kennen wir uns aus. Mit Chemo-Geschenken nicht unbedingt. Was schenkt man Frauen, die eine Chemo machen?

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Die Welle an Themen, die einen mit der Diagnose Brustkrebs überrollt, ist gewaltig. Noch schwieriger wird’s, wenn sie Themen im Gepäck hat, die ansonsten eher Tabu-Themen sind. Die Frage nach dem Kinderwunsch zum Beispiel.

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“Also ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was ich mit Ihnen anfangen soll.“ Sagt sie. Meine Lymph-Frau. Beugt sich über mich, richtet sich wieder auf, Hände in die Seiten, beugt sich wieder über mich, das gleiche Spiel.

Ich liege da. Oben ohne. Das erste Mal ohne Klamotten bei einer bis dato fremden Person in einer bis dato fremden Praxis. Knapp 2 Wochen nach der OP. Knapp 2 Wochen, nachdem mir die Brüste abgeschnitten wurden.

EINE VON ACHT ist ein Buch von Martina Racz, ein Film von Sabine Derflinger - und als #einevonacht ein Projekt von Rebecka Heinz